Essay: Was war der Ukraine-Krieg?

Dieses Video ist eine Kurzzusammenfassung des nachfolgenden Artikels.

 

 

Von Jobst Landgrebe • Der Autor liefert hier seine umfassende Analyse des Ukraine-Krieges, seiner Tieferen Ursachen, Umstände und Folgen – die kontrovers aufgenommen werden dürfte. Achgut.com bemüht sich der ganzen Bandbreite der Stimmen ein Forum zu bieten.

Seit mehr als drei Jahren tobt im Osten Europas ein Krieg, der mit Sicherheit bis heute mehr als eine Million Soldaten und zehntausenden Zivilisten das Leben gekostet hat. Er hat bisher laut UNHCR zur Flucht von etwa 7 Millionen Ukrainern geführt, allein ein Sechstel von ihnen lebt derzeit in Deutschland. Der Krieg schadet in erster Linie der Ukraine, aber auch Deutschland und allen anderen europäischen Nationen, deren direkter Handel mit Russland nun beinahe zum Erliegen gekommen ist. Er schadet aber auch der gesamten NATO und ihrem hegemonialen Führer, den USA. Wir werden weiter unten noch sehen, was das bedeutet. Dieser Krieg ist nach dem Zusammenbruch der UdSSR das für Europa bedeutsamste geopolitische Ereignis nach dem Zweiten Weltkrieg. Sein Ausgang wird die Weltlage dauerhaft verändern.

Was sind die Ursachen dieses Krieges?

Der Ukrainekrieg ist der Höhepunkt eines Konflikts, der auf den unipolaren Moment mit den USA als einziger globaler Hegemonialmacht nach dem Zusammenbruch der UdSSR zurückgeht. Blicken wir zunächst einmal auf die Ereignisgeschichte, die sich unmittelbar vor dem Konflikt zugetragen hat.

Der Konflikt begann, als der Westen beim NATO-Gipfel in Bukarest 2008 ankündigte, im Rahmen der seit 1991 fortschreitenden Ausweitung der Hegemonialsphäre der USA die Ukraine und Georgien in die NATO aufzunehmen. Beide Länder grenzen westlich (Ukraine) und südlich (Georgien) an Russland, und beide sind Anrainer des für Russland geostrategisch essenziellen Schwarzen Meers. Ihre NATO-Mitgliedschaft wäre für Russland eine extreme strategische Bedrohung. Wladimir Wladimirowitsch Putin machte dies 2008 schon im Vorfeld des Gipfels klar, wie der damalige US-Botschafter in Moskau, William J. Burns, in einem Memo an das US-Außenministerium betonte. Mit seinem Krieg gegen Georgien im Sommer 2008 (Kaukasuskrieg) und der Ablösung Abchasiens (2008) und Südossetiens (schon 1990) von Georgien machte Russland klar, dass es die hegemoniale Stellung in seiner unmittelbaren geostrategischen Einflusssphäre nicht aufgeben würde. Seit diesem Krieg war klar, dass Putin in den ersten neun Jahren seiner Regierung daran gearbeitet hatte, Russland dem Versuch einer US-Kontrolle zu entziehen.

Während der Westen die Pläne zur NATO-Mitgliedschaft Georgiens ab 2008 aufgab und die Kooperation der NATO mit Russland beendigte, wurde an den Plänen zur Integration der Ukraine in die US-Hegemonialsphäre weitergearbeitet [1, 2]. Westliche Geheimdienste spielten eine wesentliche Rolle bei der Orangenen Revolution 2004, die dem pro-westlichen Kandidaten Viktor Andrijowytsch Juschtschenko zur Macht verhalf. Er wurde 2010 von Viktor Fedorowytsch Janukowytsch, einem pro-russischen Politiker, in freien Wahlen abgelöst.

Der Druck des Westens auf die Ukraine mit dem Ziel, sie der westlichen Hegemonialsphäre einzugliedern, lies daraufhin aber nicht nach. Die EU bot der Ukraine ein Assoziierungsabkommen an, das die Ukraine zwingen sollte, seine Handelsabkommen mit Russland aufzukündigen. Janukowytsch lehnte die Unterzeichnung des Abkommens im November 2013 per Dekret ab. Darauf kam es zum Euromaidan, gewaltsamen Protesten, die zum Sturz Janukowytschs und nach einer nicht gewählten Übergangsregierung zur Wahl des pro-europäischen Politikers Petro Oleksijowytsch Poroschenko kam. Beim Euromaidan spielten westliche Geheimdienste eine entscheidende Rolle, es war eine Farbrevolution mit dem Ziel des von außen durchgeführten Regimewechsels [1]. Da Russland befürchtete, nach der Installation einer pro-westlichen Regierung in der Ukraine das Recht zur Nutzung des Hafens Sewastopol, wo die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist, zu verlieren, annektierte Russland im März 2014 die Krim. Mit der Annexion der Krim eskalierte der Konflikt um die Ukraine deutlich. Im März 2014 ratifizierte die Ukraine das exklusive Handelsabkommen mit der EU. Sodann begann eine echte Repression gegen die russischsprachige Bevölkerung im Osten und Süden des Landes; im Donbass brach Ende 2014 ein separatistischer Bürgerkrieg aus, in dessen achtjährigem Verlauf die ukrainische Armee viele Zivilisten tötete.

Die Beilegung des Konflikts war das Ziel der Minsk-I- und -II-Abkommen, die auf westlicher Seite von Hollande, Merkel und Poroschenko (Ukraine) und auf russischer Seite von Putin und dem weißrussischen Statthalter Russlands, Lukaschenko, unterzeichnet wurden [1]. Die Abkommen scheiterten. Merkel teilte der Presse im Dezember 2022 mit, der Westen habe nie die Absicht gehabt, die Minsk-Abkommen einzuhalten, sondern man habe damit lediglich Zeit zur Aufrüstung der Ukraine gewonnen, um die gegen Russland gerichteten Ziele durchzusetzen [3]. Russland sah diesem Bürgerkrieg acht Jahre lang relativ passiv zu; sicherlich wurden den Separatisten im Donbass Waffen geliefert und logistische Hilfe geleistet.

Am 24. Februar hat Russland den seit 2014 bestehenden Ukraine-Konflikt durch seinen Angriff auf das Land zum Krieg eskaliert. Der Westen reagierte mit umfassenden Wirtschaftssanktionen, einer Konfiszierung russischen Auslandsvermögens und einer dauerhaften Belieferung der Ukraine mit Waffen und militärischem Beraterpersonal sowie westlichen Söldnern. Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass die NATO in diesem Konflikt eine verdeckte Kriegspartei ist, da ohne die Beteiligung der NATO – insbesondere bei der Aufklärung und der Nutzung komplexer Militärtechnologie – die Ukraine den Krieg bereits verloren hätte. Wir haben es hier also mit einem Krieg Russlands gegen die Ukraine und die NATO zu tun, bei der die NATO Waffen, Geld, Logistik und Beratung – Material – liefert, die Ukraine aber sehr viele Menschenleben – Blut – hingibt und dabei ist, eine Generation auszulöschen, wenn man von den erfolgreich geflüchteten Männern absieht.

Ein Krieg bricht aus, wenn die Interessengegensätze zwischen den Konfliktparteien auf diplomatischem Wege nicht mehr zum Ausgleich gebracht werden können und von beiden Seiten als sehr dringlich empfunden werden, denn kein politisches System führt gerne Krieg. Abseits von der zur Mobilisierung der Soldaten und der Erzeugung von Rückhalt in der Bevölkerung notwendigen Propaganda wissen Regierungen ganz genau, wie riskant Kriege sind: Selbst ein gewonnener Krieg kann hohe Kosten erzeugen und sich bald in eine Niederlage verwandeln, während ein verlorener Krieg immer mit Machtminderung oder Machtverlust (Burgund nach der Schlacht bei Nancy), schlimmstenfalls mit dauerhafter Fremdherrschaft (Deutschland nach 1945) oder gar totaler Vernichtung (beispielsweise Karthago) einhergeht. Wenn der Krieg länger als ein paar Tage oder Wochen dauert, bedeutet dies, dass beide Parteien sich die Kriegsschuld teilen (bei kurzen Konflikten handelt es sich manchmal um reine Landnahme, dann ist der Alleinschuldige der Aggressor). Dieser Krieg währt nunmehr seit fast vier Jahren, daher müssen wir uns die Interessen im Kontext der politischen und gesellschaftlichen Situationen beider Seiten ansehen.

Der Westen

Wir leben im Westen in einer Postdemokratie mit einer Erosion der Partizipation des Souveräns an der politischen Willensbildung. Wir erleben oligarchische Eigentumsverhältnisse, Verlust an Rechtsstaatlichkeit, einen rasanten demografischen Verfall bei der autochthonen Bevölkerung, Deindustrialisierung mit drastischer Schrumpfung der Realgüterproduktion; Deklassierung und Verarmung der Unter- und Mittelschichten, was die Eigentumsdichotomisierung verstärkt; Massenmigration mit Rückgang von Wohlstand, kultureller Homogenität und Leistungsfähigkeit; Verfall kultureller Normen auf voller Breite, Nihilismus, Rückgang der Bildung, Erlöschen der gesellschaftlichen Kohärenz und subsidiären politischen Willensbildung.

Die wichtigste Konsequenz des postdemokratischen Zustands des Westens in unserem Zusammenhang ist eine politische Willensbildung der oligarchischen Eliten entgegen der Interessen der eigenen Bevölkerung, die vom Ukrainekonflikt nur Schaden nimmt und keine Chance hat, diesen Konflikt durch Partizipation an der Willensbildung zu beendigen. Wie wir sehen werden, besteht hier ein Konflikt zwischen zwei nicht-partizipativen Staatssystemen, der ihn intensiviert. In Verkennung der eklatanten eigenen Schwächen und der Stärke des Gegners ist diese elitäre Politik töricht in dem Sinne, dass Ziele verfolgt werden, die unerreichbar und selbstschädigend sind – wir kommen darauf zurück. Was sind diese Interessen?

Interessen des Westens

Der Westen hat im Ukrainekonflikt geostrategische und wirtschaftliche Interessen.

Die geostrategischen Interessen hat der prominente US-Außenpolitikberater Zbigniew Brzezinski in seinem Hauptwerk „The grand chessboard“ in den 1990er Jahren formuliert [4]. Darin fordert er, die USA müssen die einzige Weltmacht bleiben, und in der Tradition Halford Mackinders glaubte er, es komme darauf an, dass Amerika das „eurasische Schachbrett – das sich von Lissabon bis Wladiwostok erstreckt“ beherrsche. Ein wesentliches Motiv dieser Machtausübung ist die von Großbritannien seit der Veröffentlichung von Mackinders Schrift „The Geographical Pivot of History“ [5] verfolgte Trennung Deutschlands von Russland, um zu verhindern, dass sich das damals technisch und wissenschaftlich fortschrittlichste Land der Welt mit dem ressourcenreichen Russland verbündet. Dieses Bündnis, so Mackinder, würde den beiden die Kontrolle über das „heartland“ (den eurasischen Kontinent) geben und somit eine globale Hegemonie des Bündnisses ermöglichen, da die Welt über Eurasien kontrolliert werden könne. Dies war ein wesentliches Motiv des Vereinigten Königreichs im Vorfeld und bei der Durchführung des Ersten Weltkriegs, das von Erfolg gekrönt war [6].

Die USA setzten in den 1990er Jahren den Plan Brzezinskis konsequent um, wirtschaftlich durch Integration der postkommunistischen Staaten Osteuropas, aber auch militärisch, indem sie die NATO entgegen den anlässlich des Zwei-Plus-Vier-Vertrags gemachten Versprechungen immer weiter in Richtung Russlands erweiterten. Der Plan der NATO-Erweiterung um die Ukraine und Georgien richtet sich diametral gegen die geostrategischen Interessen Russlands und ist ein wesentlicher Kriegsgrund [1, 7].

Außerdem hat der Westen wirtschaftliche Interessen in der Ukraine. Diese sind dreifacher Art. Erstens ist der Donbass sehr rohstoffreich. Der russischsprachige Osten der Ukraine enthält das Gros der Rohstoffe des Landes. Sie verfügt laut SecDev Group über kommerziell relevante Vorkommen von 117 der 120 meistgenutzten Industrieminerale in mehr als 8.700 untersuchten Lagerstätten. Der Gesamtwert der Vorkommen soll zwischen 3 und 11,5 Billionen US-Dollar liegen, ein Vielfaches der Kriegskosten beider Seiten zusammengerechnet. Bei einer russischen Eroberung der Gebiete bis zum Dnjepr blieben der Ukraine noch 10 Prozent ihrer Rohstoffe, und zwar geringe Vorkommen fossiler Brennstoffe [8]. Die USA und ihre Alliierten würden diese Rohstoffe gerne unter ihre Kontrolle bringen. Dies bestätigt die auf Rohstoffbeteiligung ausgerichtete Verhandlungsstrategie Donald Trumps zur Beilegung des Krieges.

Zweitens soll der Westen schon jetzt große Eigentumsanteile an den reichhaltigen Agrarflächen der Ukraine haben oder zumindest über Optionen verfügen, sie zu erhalten, da die Ukraine dem Westen gegenüber massiv verschuldet ist. Drittens will der Westen am Wiederaufbau der Ukraine verdienen, es gab bereits Konferenzen zur Aufteilung der Einkommensströme unter den USA und den EU-Ländern, als man einen Sieg über Russland für sicher hielt.

Russland und seine Verbündeten

Russland hat keine expansiven Interessen bei der Kriegsführung, wohl aber imperiale. Mearsheimer [7] zeigt detailliert auf, dass Russland keine aggressive Expansionspolitik verfolgt, als wichtigste Indizien nennt er: (i) Abwesenheit von Evidenz, dass Russland vor dem Februar 2022 die Ukraine erobern und ihr Territorium in sein Staatsgebiet integrieren wollte. (ii) Russland tolerierte die pro-westliche Regierung der Ukraine und versuchte nicht, durch Staatsstreich einen Statthalter zu installieren wie in Weißrussland. (iii) Russland hatte 2022 nicht im mindesten genug Soldaten, um die Ukraine einzunehmen. (iv) Vor dem Angriff versuchte Russland intensiv, eine diplomatische Lösung zu erreichen. (v)

Direkt nach Beginn der Kriegshandlungen nahm Russland in Istanbul Verhandlungen mit der Ukraine auf. (vi) Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass Russland Angriffe auf andere osteuropäische Länder plant. (vii) Bis zum Ausbruch der Ukrainekrise im Februar 2014 wurden Putin im Westen nie imperiale Ambitionen unterstellt.

 

Hingegen hat Russland durchaus imperiale Interessen. Zwar sind Russlands Rohstoffvorkommen so gewaltig, dass es nicht auf die Lager im Donbass angewiesen ist. Wohl will Russland dem Westen aber den Zugang dazu verwehren und beansprucht diese Rohstoffe, weil die Gebiete, in denen sie liegen, seit vielen Jahrhunderten zu Russland gehörten und von Russischsprechern bewohnt werden.

Vor allem hat Russland als imperiale Macht ein starkes Interesse daran, nicht unmittelbar an seinen Grenzen bedroht zu werden. Es will – in der Sprache des 19. Jahrhunderts ausgedrückt – einen cordon sanitaire um seine Grenzen haben, genau wie die USA schon seit langem die Monroe-Doktrin verfolgen, die ebenso besagt, dass in der westlichen Hemisphäre keine gegen Amerika gerichteten Waffen stationiert werden dürfen (die Kubakrise zeigte, was der Versuch, gegen diese Doktrin zu verstoßen, bedeutet). Die NATO-Erweiterung mit der Absicht, auch die Ukraine und Georgien zu NATO-Staaten zu machen, hat die russischen Interessen jahrzehntelang ignoriert und Russland existenziell bedroht.

Deswegen weist Mearsheimer [7] dem Westen die Hauptschuld am Konflikt zu und bringt dafür folgende Kernargumente: (i) Die russische Führung hat seit 2008 immer wieder klar geäußert, dass eine Aufnahme der Ukraine in die NATO eine existenzielle Bedrohung für Russland darstellt, die nicht toleriert werden wird. Dabei spielt es keine Rolle, dass die NATO sich als Defensivbündnis definiert – von Russland wird es anders wahrgenommen, und darauf kommt es an. (ii) Zahlreiche wichtige Mitglieder der westlichen Elite erkannten ab 2008, dass Russland eine Aufnahme der Ukraine in die NATO nicht tolerieren würden und warnten davor – damit sind die wesentlichen Merkmale der Torheit der Regierenden, wie Barbara Tuchman [9] sie definiert hat erfüllt (dazu unten mehr). Seit Beginn des Krieges hat Russland immer wieder betont, dass es eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine um jeden Preis verhindern wird und dass es nicht die ganze Ukraine erobern und in sein Staatsgebiet eingliedern will.

Worum es beiden Seiten nicht geht. Bevor wir zu den Schlussfolgerungen kommen, sei noch kurz etwas zur Kriegspropaganda gesagt. Die NATO-Staaten behaupten, in der Ukraine würden mit westlichen Mitteln Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit verteidigt. Die Russen bringen vor, es ginge um das völkerrechtlich garantierte Recht auf staatliche Selbstbestimmung der Russischsprecher im Donbass. Beides ist reine Propaganda. Tatsächlich aber hat der Westen recht mit seiner Aussage, der russische Angriffskrieg sei völkerrechtswidrig.

Schlussfolgerungen

Niemand kann den Zeitpunkt und die Modalitäten des Endes dieses Krieges vorhersagen, ja wir können noch nicht einmal viel zum Verlauf des Krieges sagen, weil es keine verfügbaren objektiven Quellen dazu gibt, alles ist vom Nebel der Kriegspropaganda verschleiert. Wir wissen auch nicht, wie viele Tote und Verstümmelte es auf welcher Seite gegeben hat.

 

Was wir sicher wissen, ist, dass der Westen aufgrund seiner Deindustrialisierung nicht so viel Munition an die Ukraine liefern kann, dass es für einen Sieg ausreicht – die Produktionskapazitäten sind zu gering. Außerdem hat der Westen bei einigen Waffengattungen gezögert, da die westlichen Militärs das konventionelle russische Abschreckungspotenzial (Hyperschallwaffen) zu Recht sehr ernst nehmen. Mit diesen Waffen kann Russland beispielsweise jederzeit jede NATO-Militärbasis in Europa und jeden Flugzeugträgerverband zerstören [10].

Einen Mangel an Kriegsmaterial hat Russland nicht, weil es seit 2008 offensichtlich hochmoderne und effektive Rüstungsfabriken aufgebaut hat. Außerdem ist Russland logistisch im Vorteil, es kann Waffen, Männer, Logistikbedarf und Wartungsleistungen direkt per Eisenbahn an die Front liefern, während westliche Kriegsgüter einen langen Weg zurücklegen müssen. Viele westliche Beobachter behaupten, Russland sei zu schwach, den Krieg zu gewinnen, was man an dem langsamen Vormarsch ablesen können. Meine Meinung ist, dass das langsame Tempo beabsichtigt ist, um die eigenen Verluste zu minimieren, da Russland ebenso wie der Westen unter Bevölkerungsschwund leidet.

Russland hat die drastischen westlichen Sanktionen gut überstanden. Auf das Ziel der Destabilisierung des Finanzsystems durch Disruption des Zahlungsverkehrs und Bankenpleiten hat die russische Zentralbank effektiv reagiert, man war auf den Rauswurf aus dem SWIFT-System vorbereitet. Die Unterbrechung internationaler Lieferketten mit dem Ziel der Disruption russischer Produktion wurde durch andere Handelspartner kompensiert, die russische wirtschaftliche Autarkie wurde unterschätzt. Das Ziel der Reduktion der Einnahmen durch geringere Erlöse aus dem Verkauf fossiler Brennstoffe wurde durch Lieferungen an neue Partner, die wie Indien russische fossile Brennstoffe an den Westen weiterverkaufen, unterlaufen. Insgesamt ist es nicht gelungen, Russland zu schwächen, die derzeitige Inflation ist nicht das Resultat von Geldschöpfung aus dem Nichts wie im Westen, sondern einer Überhitzung der Wirtschaft.

Jedenfalls ist es nun wahrscheinlich, dass Russland diesen Krieg klassisch gewinnen könnte, da der Westen offensichtlich nicht in der Lage ist, Russland zu stoppen. Wir haben nicht mehr die industrielle Kapazität dafür, aber auch nicht den Kriegswillen, Russland offen mit eigenen Truppen anzugreifen und in einem Blutbad hunderttausender westlicher Soldaten mühsam kleine Frontabschnitte zu erobern. Russland hat das Zerstörungspotenzial seiner neuen Hyperschallwaffen [10], die nun alle in Serienproduktion gehen, noch nicht einmal ansatzweise ausgeschöpft; es hat bisher auch die ukrainische Infrastruktur nur selektiv beschädigt, wahrscheinlich, um sie nach dem Krieg selbst nutzen zu können. Der Westen scheint Russland derzeit militärisch unterlegen zu sein, so seltsam das angesichts des Verhältnisses westlichen zu russischen Militärausgaben auch klingt.

Die Folgen für Private

Welche Auswirkungen hat der Krieg international für Privatleute? Globale Oligarchenfamilien mit riesigem Streubesitz sind in jedem Fall Gewinner, weil sie an der Produktion von Kriegsgütern und den damit verbundenen Staatsanleihen, deren Gläubiger sie sind, verdienen. Lokale Kleinmilliardäre in Russland, den USA, partiell auch in der EU, der Schweiz und UK mögen aus ähnlichen Gründen zu den Kriegsgewinnlern gehören. In der Ukraine, Deutschland oder deutschen Handelspartnernationen gehören sie zu den Verlieren. Alle anderen sind im Westen wegen Inflation und erhöhter Steuerlast Kriegsverlierer, in Russland (ausgenommen Soldaten), China, Indien, Iran und Nordkorea aber Gewinner, da diese Länder durch den Krieg insgesamt profitieren, woran alle Schichten beteiligt werden.

Die Folgen für Russland

Russland würde nach dem Sieg die wesentlichen Rohstoffvorkommen der Ukraine und die russischsprachige Bevölkerung in das russische Staatsgebiet integrieren, es würde eine Aufnahme der Restukraine in die NATO verhindern und es würde Sorge tragen, dass die Restukraine nicht weiter gegen Russland rüsten kann, sondern mindestens ein neutraler Pufferstaat, wenn nicht gar ein Vasallenstaat wie Weißrussland wird.

Damit würde Russland alle Interessen des Westens vereiteln, die bisherigen Investitionen des Westens in den Krieg würden sich – abgesehen von den Renditen der Rüstungskonzerne – nicht amortisieren, weder hinsichtlich des Zugriffs auf die Ressourcen des Donbass noch der Vereinnahmung landwirtschaftlicher Flächen noch der breiten Renditeerzeugung beim Wiederaufbau. Russland wird auch die Restitution seines konfiszierten Auslandsvermögens und die Aufhebung der Sanktionen fordern. Sollte der Westen nicht dazu bereit sind, wird Europa, schon heute nach der Ukraine Zweitgeschädigter, den Hauptschaden tragen. Denn der Wegfall des Handels mit Russland ist für ganz Europa extrem schmerzhaft. Deutschland fehlt die billige, reichhaltig verfügbare Energie aus Russland, die eine wesentliche Grundlage seiner Industrieproduktion bedeutete. Von diesem Mangel sind die deutsche Industrieproduktion, aber auch die Exporte der europäischen Handelspartner nach Deutschland bedroht. Deutschland ist wieder der kranke Mann Europas, und ganz Europa leidet, wenn die deutsche Wirtschaft stagniert (wofür es noch andere politische Gründe als den Krieg mit Russland gibt). Ohne eine Rückkehr zum einvernehmlichen Handel mit Russland wird sich Deutschland nicht erholen und Europa weiter leiden. Russland wird mit Sicherheit im Inneren, aber auch im Verhältnis zu seinen Partnern gestärkt aus dem Krieg hervorgehen. Das geostrategische Ziel einer Schwächung Russlands kann schon jetzt als gescheitert angesehen werden.

Die Folgen für den Westen

Und der Westen? Greifen wir Tuchmans Begriff der „Torheit der Regierenden“ [9] noch einmal auf. Die Historikerin beschreibt damit politisches Handeln von Eliten gegen die eigenen Interessen, obwohl Alternativen vorlagen und von einer Minderheit bekannt gemacht wurden (pp. 6ff.). Oftmals geht diese Torheit mit kultureller Blindheit, der Unfähigkeit zur intersubjektiven Abschätzung der kulturellen Einstellung des Gegners (op. cit. p. 33, Tuchman verwendet Pearl Harbour als Beispiel), einher. Genau das ist beim Ukrainekonflikt der Fall. Zahlreiche wichtige Mitglieder westlicher Eliten, unter ihnen auch Angela Merkel, warnten seit 2008 vor einer NATO-Erweiterung und brachten glaubhafte und vernünftige Handlungsalternativen vor. Doch die oben beschriebene Mackinder-Brzezinski-Agenda einer Schwächung und Unterwerfung Russlands setzte sich durch, man provozierte und gängelte Russland jenseits der Schmerzgrenze und war sich sicher, den Krieg zu gewinnen. Dabei verkannte man die kulturelle Einstellung der russischen Eliten, so wie die Japaner bei Pearl Harbour eine Fehleinschätzung vornahmen. Warum?

Weil man im Westen die eigenen Fähigkeiten überschätzt und die der Gegner unterschätzt. Der USA haben sich seit 1960 auf ein imperiales Modell umgestellt, bei dem nicht mehr Arbeit, Leistung und industrielle Produktion zählen, sondern Gelddrucken, Finanzialisierung [11, Kap. 2, 5] und wirtschaftlich-finanzieller Imperialismus [12, pp. ix.ff]. Man bekommt Wohlstand, indem man mehr importiert als exportiert und die Handelspartner mit Geld aus der Notenpresse bezahlt. Sozialleistungen werden zu einem guten Teil nicht mehr erwirtschaftet, sondern durch Neuverschuldung finanziert. Gleichzeitig wurde im Westen die Industrieproduktion immer weiter abgebaut, um durch Produktion in Asien höhere Renditen zu erzielen, mit Ausnahme von Deutschland und Italien, bei denen der Prozess nun aber nachgeholt wird. Seit den späten 1970er Jahren, als die Abgänger der neuen Massenuniversitäten auf den Arbeitsmarkt kamen, ist paradoxerweise auch das naturwissenschaftlich-technische Bildungsniveau im Westen immer weiter gefallen, so dass es schwer ist, den industriellen Rückstand gegenüber Russland und China wieder aufzuholen [13, 14].

Nehmen wir an, der Westen stünde vor einer Niederlage gegen Russland, an der auch die neue US-Regierung, die die Politik der Biden-Regierung im Wesentlichen fortsetzt, änderte. Niederlage bedeutete hier, dass Russland seine oben aufgezählten politischen Ziele militärisch durchsetzen würde. Sicherlich würde man versuchen, der eigenen Bevölkerung gegenüber eine solche Niederlage herunterzuspielen wie schon bei den Niederlagen in Vietnam, Irak, Libyen oder Afghanistan. Doch wäre dies eine anders geartete Niederlage. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ist der Westen hier mit einem mindestens ebenbürtigen Gegner in einer direkten militärischen Auseinandersetzung konfrontiert, es wäre überhaupt eine der seltenen Niederlagen des Westens gegen einen nicht-westlichen externen Gegner seit den Kreuzzügen; denn ab dem Spätmittelalter dominierte der Westen global. Doch auch wenn es gelänge, die westliche Öffentlichkeit über die Bedeutung dieser Niederlage zu täuschen, so würde sie von den Gegnern des Westens ganz anders aufgenommen werden, nämlich als Zeichen der Schwäche des Westens.

Die Folgen wären nicht absehbar, aber mit Sicherheit bedeutete dies einen Wendepunkt in der US-Hegemonie. Die Konfiszierung des russischen Auslandsvermögens, das durch Handelsbilanzüberschüsse entstanden ist, und die Verwendung der daraus entstehenden Zinsen zur Finanzierung des Krieges gegen Russland, wurde von nicht-westlichen Akteuren genau beobachtet. Schon heute sinkt infolge dieser Maßnahmen die Nutzung des Dollars zur Abwicklung internationalen Handels. Dadurch nimmt die Seigniorage der US-Banken und FED, der aus der Erzeugung neuen Geldes entstehende Gewinn, der auch von der Währungsmenge abhängig ist, ab. Wenn nun Länder damit beginnen, sich zu weigern, sich für Handelsbilanzüberschüsse gegenüber der USA mit USD bezahlen zu lassen oder reiche Anleger aus dem USD aussteigen, kann der von Hudson [12] beschriebene US-Finanzimperialismus sehr schnell enden.

Zumindest Teile der US-Eliten haben diese Schwäche erkannt, weshalb die Trump-Regierung anfänglich ein Interesse an der Beilegung des Krieges zeigte, was man als imperialen Konsolidierungs- und Restaurationsversuch interpretieren kann. Doch ist die Verhandlungsposition der USA nicht gut, und mit jedem Tag, den der Krieg weitergeht, gewinnen die Russen Gelände und darunter liegende Bodenschätze hinzu. Russland könnte, so scheint es derzeit, den Krieg so lange weiterführen, bis es alle seine Kriegsziele erreicht haben wird. Nach einigen Irritationen zu Beginn der Trump-Regierung ist man sich im Westen nun einig, an der Kriegsunterstützung für die Ukraine festhalten zu wollen; allerdings sollen die Europäer nun mit Steuermitteln amerikanischen Waffen finanzieren, was aus Sicht der US-Finanzeliten, die die Rüstungsfirmen besitzen, ideal ist: Sie können nun fremdes Gemeinvermögen in Privatgewinne umwandeln anstatt US-amerikanisches. In kultureller Hinsicht haben die Westkollektivisten in der EU noch nicht begriffen, dass mit Trump ein Restaurationsversuch beginnt, der für die Aufrechterhaltung der westlichen Hegemonialstruktur essenziell ist. Die Staatslenker der EU haben tief in den Westkollektivismus investiert: Sie wiegen sich in der Illusion, ohne adäquate fiskalische, militärische und industrielle Mittel einen hochmodernen industriellen Abnutzungskrieg gegen Russland tragen zu können, das vier Jahre lang erfolgreich dem steigenden Druck des Westens standgehalten hat. Die Trump-Regierung hingegen möchte nicht mehr in den Krieg investieren, aber sicherstellen, dass US-Konzerne weiter am Krieg verdienen, ohne dafür die politische und fiskalische Verantwortung zu tragen. Der Westkollektivismus ist nicht nur zutiefst gegen die Interessen der eigenen Völker gerichtet, er ist auch vollkommen selbstzerstörerisch.

An dieser Krise erkennen wir ein aus der Geschichte bekanntes Muster, wonach hegemoniale Militärbündnisse nach wichtigen Niederlagen destabilisiert werden. Das kann auch der NATO drohen, falls der Krieg mit einer Niederlage endet und sich danach herausstellt, dass Russland keinerlei aggressive Absichten gegenüber anderen osteuropäischen Staaten hat. Was ist dann noch der Sinn einer NATO-Mitgliedschaft jenseits der Finanzierung von US-Waffenfirmen mit europäischen Steuermitteln? Wenn ein Hegemon schwächer wird, füllen andere seinen Raum aus. Diesen Prozess können wir im Pazifik und an der russisch-ukrainischen Grenze, die sich täglich nach Westen verschiebt, bereits beobachten. Der Westen muss zu der Staatsmetaphysik zurückkehren, die unsere Kultur in der Menschheitsgeschichte einmalig macht: Partizipation, Naturrecht und Isonomie. Sollte der Westen das nicht schaffen und keine Wende weg vom Wohlstand durch Gelddrucken auf Kosten anderer und hin zur Reindustrialisierung vollziehen, dann werden neue hegemoniale Strukturen in Europa entstehen.

Dr. Jobst Landgrebe ist Arzt, Biochemiker und Mathematiker.

Literatur

[1] John Mearsheimer. “Playing With Fire in Ukraine”. In: Foreign Affairs August 17th (2022).

[2] Helmut Roewer. Nicht mein Krieg. Dresden: edition buchhaus loschwitz, 2024.

[3] Angela Merkel, Tina Hildebrandt und Giovanni di Lorenzo. “Hatten Sie gedacht, ich komme mit Pferdeschwanz? (Interview)”. In: Die Zeit 51 (2022).

[4] Zbigniew Brzezinski. The Grand Chessboard. New York: Preseus Books, 1997.

[5] Halford J Mackinder. “The geographical pivot of history”. In: The Geographical Journal 170.4 (2004 (1904)), S. 298–321.

[6] Helmut Roewer. Unterwegs zur Weltherrschaft Band 1. Zürich: Scidinge Hall, 2016.

[7] John Mearsheimer. “Who caused the Ukraine war?” In: Substack (2024). url:

https://mearsheimer.substack.com/p/who-caused-the-ukraine-war

[8] Wissenschaftlicher Dienst des Bundestags. “Rohstoffe der Ukraine”. In: WD 5 3000.076/23 (2023).

[9] Barbara W Tuchman. The march of folly: From Troy to Vietnam. Random House, 2014 (1985).

[10] Jobst Landgrebe. “Wie ist und was bedeutet der Stand russischer Angriffswaffen?” In: Globkult (2024). eprint: https://www.globkult.de/politik/welt/2421-wie-ist-und-bedeutet-der-stand-russischer-angriffswaffen

[11] Michael Hudson. The Destiny of Civilization. Dresden: Islet Verlag, 2022.

[12] Michael Hudson. Super Imperialism: The economic strategy of American empire. Dresden: Islet Verlag, 2021.

[13]  Emmanuel Todd. La défaite de l’Occident. Gallimard, 2024.

[14] Jobst Landgrebe. “Geostrategie 2025”. In: Globkult (2025). eprint: https://www.globkult.de/politik/besprechungen/2430-geostrategie-2025

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