Konflikt und Verschwörung: Wie die Unruhen im Nahen Osten das globale Misstrauen schüren
Teil I der Jussur-Reihe über Verschwörungserzählungen, öffentliches Vertrauen und den Zusammenbruch der Realität
„In einer Region, in der Schweigen herrscht, sind es die Fragen, die einen umbringen.“
Dies ist der erste Teil einer fünfteiligen Serie von Jussur , die untersucht, wie sich moderne Verschwörungserzählungen, insbesondere im Zusammenhang mit der Nahostpolitik, antisemitischen Tropen und der Straflosigkeit der Eliten, in die globale Kultur eingeprägt haben. Über alternative Medien, Telegram-Kanäle und Substack-Kommentarthreads dringen Ideen, die einst am Rande brodelten, nun in den alltäglichen Diskurs ein. Doch wie ist es dazu gekommen? Und warum sind so viele Menschen über politische, kulturelle und religiöse Grenzen hinweg davon überzeugt, dass jemand Unsichtbares die Fäden zieht?
Um diese Frage zu beantworten, kehren wir zu der Region zurück, die am häufigsten sowohl als Katalysator als auch als Folge genannt wird: dem Nahen Osten.
Der Nahe Osten als fruchtbarer Boden für konspiratives Denken
In den letzten Jahren, insbesondere seit dem Gaza-Krieg 2023/24 und den wachsenden Spannungen rund um den Iran, hat sich eine neue Generation von Verschwörungserzählungen im Internet etabliert. Doch ihre Logik ist nicht neu. Von Israels Militärkampagnen bis hin zur selektiven Empörung des Westens erkennen viele Muster, die sich nicht mehr wie Zufälle anfühlen. Sie wirken konstruiert.
Israels Militäraktionen im Gazastreifen während des Krieges von 2023 bis 2024 waren verheerend. Tausende Zivilisten, darunter ganze Familien und Kinder, wurden getötet. Krankenhäuser brachen unter der Belastung zusammen. Ganze Stadtteile wurden dem Erdboden gleichgemacht. Und dennoch wiederholten westliche Regierungen mit überwältigender Mehrheit ein einziges Argument: Israel hat das Recht, sich zu verteidigen.
Dieses Muster aus Tod und diplomatischem Schweigen löste in vielen Teilen der Welt, insbesondere im Internet, eine bekannte Reaktion aus: Warum zieht niemand Israel zur Verantwortung?
Die Antwort lag für viele nicht mehr in den Begriffen politischer Voreingenommenheit oder Realpolitik. Es ging um etwas Tieferes, Dunkleres – die Vorstellung, dass eine mächtige Kabale, oft als „zionistische Interessen“ beschrieben, die Medienberichterstattung, politische Ergebnisse und sogar die Justiz selbst kontrolliert.
Gaza und die Logik der Doppelmoral
Der Gaza-Krieg war nicht das erste Mal, dass die Menschen die unterschiedliche Beurteilung von Gewalt bemerkten, je nachdem, wer die Waffe in der Hand hält. Doch das Ausmaß und die Sichtbarkeit dieses jüngsten Krieges machten den Kontrast unverkennbar.
Während Tausende unter Trümmern begraben wurden, plapperten die westlichen Medien oft unkritisch die israelischen Militärbehauptungen nach. Berichte betonten den Einsatz menschlicher Schutzschilde durch die Hamas oder konzentrierten sich ausschließlich auf israelische Geiseln, während die steigenden zivilen Opferzahlen in Gaza nur am Rande erwähnt wurden. Die Berichterstattung war so angelegt, dass das palästinensische Leid stets heruntergespielt wurde, während Blockade, Besatzung oder die historischen Wurzeln des Konflikts kaum hinterfragt wurden.
Bis Ende 2023 wurden in Gaza über 8.000 Menschen getötet – viele davon Kinder. Doch das änderte nichts. US-Waffen flossen weiterhin nach Israel. Waffenstillstandsbeschlüsse wurden von der UNO abgelehnt. Politiker von Washington bis Berlin verteidigten Israels Recht, den Krieg fortzusetzen.
Für viele Beobachter, insbesondere für jene, die ein geschichtsträchtiges Umfeld haben oder in der arabischen und muslimischen Welt aufgewachsen sind, war dies nicht nur ein moralisches Versagen. Es war die Bestätigung eines Musters.
Sie hatten das schon einmal erlebt. Sie waren mit der Überzeugung aufgewachsen, dass die Voreingenommenheit der Medien kein Zufall sei. Dass westliche Regierungen niemals ernsthaft gegen Israel vorgehen würden, egal, welches Verbrechen begangen wurde. Und nun wurden diese Überzeugungen mit jedem Tod, jedem Veto und jeder Ausblendung palästinensischer Stimmen aus der öffentlichen Debatte bestärkt.
Wenn Kritik zur Verschwörung wird
Dies ist der Wendepunkt, an dem Kritik in Verschwörung umschlägt. Das Politische wird metaphysisch.
Wenn Menschen das Gefühl haben, dass Völkerrecht, Medien und Diplomatie nicht zufällig, sondern systematisch versagen, suchen sie nach Erklärungen, die dem Ausmaß des Verbrechens angemessen sind. Das Ergebnis ist oft ein Sprung in totalitäre Überzeugungen: dass Regierungen nicht nur voreingenommen, sondern auch korrupt seien. Dass die Presse nicht nur nachlässig, sondern kontrolliert werde.
So gewinnt die Theorie der Zionistisch besetzten Regierung (ZOG) nicht nur unter weißen Rassisten, sondern auch im alltäglichen Online-Diskurs an Bedeutung. Wenn westliche Staatschefs weiterhin Kriegsverbrechen finanzieren und gleichzeitig Forderungen nach einem Waffenstillstand unterdrücken, ist die Logik unwiderstehlich: Sie müssen unter der Kontrolle von irgendjemandem stehen. Und die Antwort ist immer dieselbe.
Iran, Trump und die Säbel der Verschwörung
Diese Logik beschränkt sich nicht nur auf Gaza. Dieselbe Struktur – gewalttätige Ereignisse, gefolgt von einer westlichen Rechtfertigung – gilt auch für die Haltung der USA und Israels gegenüber dem Iran.
Am 22. Juni 2025 genehmigte Präsident Trump israelische Luftangriffe auf iranische Ziele. Selbst in MAGA-Kreisen löste dies Alarm aus. Prominente konservative Stimmen warfen Trump vor, als Stellvertreter israelischer Interessen zu agieren. Tucker Carlson bezeichnete es ausdrücklich als einen Kriegsakt, der nicht den amerikanischen Interessen diente.
Dieser innerrechte Riss offenbarte etwas Größeres. Ein Teil der Anti-Establishment-Rechten vertritt zunehmend eine verschwörerische Anti-Israel-Stimmung, oft im Rahmen einer breiteren „America First“-Agenda. Die Kritik: US-Soldaten, Dollar und politisches Kapital werden eingesetzt, um Israels Agenda voranzutreiben, nicht die der USA.
Ob von der arabischen Straße oder aus der Alt-Right-Blogosphäre geäußert, der zugrunde liegende Verdacht ist derselbe: Jemand zieht die Fäden.
Die tiefen Wurzeln des Misstrauens
Warum erscheint diese Erzählung so vielen so plausibel?
Denn die wahre Geschichte bestätigt die Annahme, dass die Oberfläche selten die ganze Wahrheit verrät. Die USA haben demokratisch gewählte Regierungen im Iran gestürzt (1953), Extremisten in Afghanistan bewaffnet (1980er Jahre), den Irak unter falschen Vorwänden überfallen (2003), Libyen destabilisiert und in Syrien geheime CIA-Programme durchgeführt.
Wenn Israel den Iran bombardiert oder die USA ihn mit diplomatischem Einfluss verteidigen, fragen sich die Menschen: Handelt es sich hier um eine weitere verdeckte Operation? Steckt dahinter ein größerer Plan?
Hinzu kommt, dass israelische Politiker oft mit ihrem regionalen Einfluss geprahlt haben oder dass sich die außenpolitische Elite der USA öffentlich auf die Seite der israelischen Verteidigungspolitik gestellt hat. Das alles bietet einen fruchtbaren Boden für die Annahme, dass „sie das von Anfang an geplant haben“.
Und vielleicht ist das auch der Fall, aber nicht unbedingt auf die Art und Weise, wie sich Verschwörungstheoretiker das vorstellen.
Straflosigkeit der Eliten und der Krater des Vertrauens
Es gibt noch einen weiteren Brandbeschleuniger für diesen Verdacht: die Straflosigkeit der Elite.
Israelische Kriegsverbrechen, selbst solche, die von internationalen Organisationen dokumentiert wurden, haben selten rechtliche Konsequenzen. Die Belagerung des Gazastreifens, der Ausbau der Siedlungen, die Attentate – nichts davon führt dazu, dass israelische Generäle vor Tribunale gestellt werden. Auch die Architekten des Irak-Kriegs – Bush, Cheney, Rumsfeld – sind auf freiem Fuß, sprechen vor Think Tanks und veröffentlichen Memoiren.
Dies erteilt der Öffentlichkeit eine schmerzliche Lektion: Es gibt Regeln, aber nicht für sie.
Diesem Verstoß gegen die Verantwortlichkeit stehen Verschwörungstheorien im Weg. Die Logik ist einfach: Wenn die Mächtigen nicht zur Rechenschaft gezogen werden können, müssen sie geschützt werden. Wenn ihnen niemand etwas anhaben kann, muss sie jemand beschützen. Und wenn sie beschützt werden, müssen sie diejenigen sein, die hinter den Kulissen die Fäden ziehen.
Es handelt sich nicht nur um einen erkenntnistheoretischen Zusammenbruch. Es ist auch ein moralischer.
Von der Geopolitik zur Mythenbildung
So verwandelt sich ein Konflikt, der auf realen Ereignissen beruht, in eine große Erzählung. Gaza, Iran, Syrien, Irak – allesamt Kapitel einer einzigen Geschichte. Eine geheime Verschwörung regiert die Welt. Die Medien sind ihr Sprachrohr. Die Politiker sind ihre Marionetten. Die Kriege sind nichts weiter als Rituale von Blut und Macht.
Und so wird die globale Geschichte zu einem Mythos, der in Memes und YouTube-Dokumentationen weitererzählt und durch jede neue Krise neu interpretiert wird.
In diesem Mythos ist der Bösewicht immer derselbe. Zionisten. Globalisten. Die Ältesten. Die Banker. Der Tiefe Staat. Wie auch immer man ihn nennt, die Logik bleibt unverändert: Die Welt ist nicht das, was sie zu sein scheint, und wer die Wahrheit erkennt, muss sie enthüllen.
Doch was passiert, wenn dieser Mythos in der öffentlichen Vorstellung nicht mehr von der Realität zu unterscheiden ist? Was passiert, wenn die Grenze zwischen Kritik und Verschwörung verschwimmt?
Dorthin wenden wir uns als nächstes.
In Teil II dieser Serie verfolgen wir, wie die ZOG-Erzählung, die in der weißen Rassisten-Randgruppe entstand, in den Mainstream gelangte. Wir untersuchen, wie antisemitische Tropen an das digitale Zeitalter angepasst wurden und warum uralte Mythen wie die „Protokolle der Weisen von Zion“ noch immer ihren Schatten auf die heutigen politischen und kulturellen Narrative werfen.
