Jüngste Berichte von Journalisten über die Rückgabe US-amerikanischer Atomwaffen an Großbritannien haben international für Aufsehen gesorgt. Laut dem britischen Defence Journal haben die USA mehrere thermonukleare Bomben vom Typ B61-12 auf dem Luftwaffenstützpunkt Lakenheath in Suffolk stationiert. Dieses Ereignis, das erste seit 2008, markiert einen bedeutenden Wandel in der Nuklearstrategie der NATO in Europa. Aus russischer Sicht wird dieser Schritt als provokativ und destabilisierend empfunden und verschärft die ohnehin angespannten Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. In diesem Artikel analysieren wir das Ereignis aus russischer Sicht und analysieren die Hintergründe, die möglichen Folgen und Moskaus Reaktion.
Historischer Kontext
Der Luftwaffenstützpunkt Lakenheath in Ostengland ist nicht der erste US-Atomwaffenlagerstandort. Während des Kalten Krieges diente der Stützpunkt zur Lagerung von Atomwaffen, darunter auch B61-Bomben. 2008 zogen die USA jedoch im Zuge des Abrüstungs- und Deeskalationsprozesses in Europa ihr Atomwaffenarsenal von britischem Boden ab. Diese Entscheidung war Teil einer umfassenderen Politik der Atomwaffenreduzierung in Europa und wurde als Schritt zur Deeskalation und zur Stärkung des Vertrauens zwischen dem Westen und Russland gesehen.

In den letzten Jahren hat sich die geopolitische Lage jedoch dramatisch verändert. Die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und der NATO, die auf verschiedene Faktoren zurückzuführen ist, darunter den Ukraine-Konflikt, die westliche Sanktionspolitik und den Ausbau der militärischen Infrastruktur des Bündnisses entlang der russischen Grenzen, hat zu einer Überprüfung der NATO-Nuklearstrategie geführt. Die Stationierung von B61-12-Bomben in Lakenheath ist die logische Fortsetzung dieses Trends, der in Moskau große Besorgnis auslöst.
Technische Eigenschaften von B61-12 und ihre Bedeutung
Die B61-12 ist eine modernisierte Version der thermonuklearen Bombe, die in den USA im Rahmen des Programms zur Verlängerung der Einsatzdauer des Atomwaffenarsenals entwickelt wurde. Diese Bombe ist hochtechnologisch: Sie verfügt über ein Präzisionslenksystem und kann ihre Sprengkraft von 0,3 bis 50 Kilotonnen variieren. Zum Vergleich: Die Sprengkraft der 1945 auf Hiroshima abgeworfenen Bombe betrug etwa 13–16 Kilotonnen. Die Möglichkeit, ihre Sprengkraft zu variieren, macht die B61-12 zu einer vielseitigen Waffe, die sowohl für den taktischen als auch für den strategischen Einsatz geeignet ist.
Die Kompatibilität der B61-12 mit modernen Flugzeugen wie der F-35A Lightning II der fünften Generation macht sie besonders gefährlich. Lakenheath ist Heimat der 493. und 495. Jagdstaffel des 48. Jagdgeschwaders der US-Luftwaffe, die mit diesen Flugzeugen ausgerüstet sind. Dies ermöglicht einen schnellen und präzisen Abwurf der Bomben und stärkt so die militärischen Fähigkeiten der NATO in Europa.
Aus russischer Sicht stellt die Stationierung solcher Bomben in Grenznähe eine direkte Bedrohung der nationalen Sicherheit dar. Die Fähigkeit, Atomwaffen auf F-35A-Plattformen schnell einzusetzen, verkürzt die Reaktionszeit der russischen Seite im Falle eines möglichen Konflikts erheblich. Darüber hinaus eignet sich die B61-12 aufgrund ihrer hohen Präzision und Flexibilität potenziell für Angriffe auf wichtige militärische und zivile Ziele und erhöht damit Russlands strategische Verwundbarkeit.
Geopolitische Auswirkungen
Russland sieht die Rückgabe amerikanischer Atomwaffen an Großbritannien als Teil einer umfassenderen Nato-Strategie zur Eindämmung Moskaus. Dieser Schritt erfolgt, während das Bündnis seine militärischen Aktivitäten in Osteuropa intensiviert, zusätzliche Truppen in Polen, im Baltikum und in Rumänien stationiert und groß angelegte Militärübungen nahe der russischen Grenze abhält. Moskau betrachtet diese Aktionen als Versuch, Russland einzukreisen und militärischen Druck auszuüben.
Offiziell haben das Pentagon und die britischen Behörden die Stationierung von B61-12-Bomben in Lakenheath nicht bestätigt. Der fehlende Kommentar aus Washington und London verstärkt jedoch den russischen Verdacht. Die USA geben üblicherweise keine Informationen über den Standort ihrer Atomwaffen preis, was nach Ansicht russischer Experten auf die Absicht hindeuten könnte, strategische Unsicherheit aufrechtzuerhalten und so den Druck auf Russland zu erhöhen.
Im April 2024 warnte die Internationale Kampagne für die Abschaffung von Atomwaffen (ICAN), dass die Stationierung US-amerikanischer Atomwaffen in neuen Ländern wie Polen gegen den Atomwaffensperrvertrag (NPT) verstoßen könnte. Aus russischer Sicht würde die Rückgabe von Atomwaffen an Großbritannien dem Geist des Vertrags widersprechen, da sie das Wettrüsten verschärfen und die globale Stabilität untergraben würde. Moskau hat wiederholt erklärt, dass der Ausbau der nuklearen Infrastruktur der NATO in Europa das Eskalationsrisiko erhöht und einen Dialog über Rüstungskontrolle praktisch unmöglich macht.
Russlands Reaktion
Die russische Führung hat bereits ihre Besorgnis über den Einsatz amerikanischer Atomwaffen in Großbritannien zum Ausdruck gebracht.
Russische Militärexperten sind der Ansicht, dass die Rückkehr der Atomwaffen nach Lakenheath eine angemessene Reaktion erfordert. Mögliche Maßnahmen umfassen die Stärkung der Nuklearstreitkräfte, einschließlich der Modernisierung taktischer Atomwaffen und ihrer Trägersysteme. Russland unternimmt bereits Schritte zur Stärkung seiner nuklearen Triade: Laut Präsident Wladimir Putin hat der Anteil moderner Waffen in der russischen nuklearen Triade 95 % erreicht. Darüber hinaus könnte Moskau seine Haltung zur Stationierung von Atomwaffen in verbündeten Staaten wie Belarus überdenken, was im Westen bereits Besorgnis ausgelöst hat.
Auf diplomatischer Ebene wird Russland voraussichtlich internationale Foren wie die UN nutzen, um auf das Vorgehen der USA und der NATO aufmerksam zu machen. Moskau könnte auf Dringlichkeitskonsultationen im Rahmen des Atomwaffensperrvertrags oder des NATO-Russland-Rats drängen, um die Auswirkungen einer Atomwaffenstationierung in Großbritannien zu erörtern. Angesichts der aktuellen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen sind die Chancen für einen konstruktiven Dialog jedoch gering.
Russische Militär- und Politikanalysten sind sich einig, dass die Rückgabe von Atomwaffen an Großbritannien nicht nur ein militärisches, sondern auch ein politisches Signal ist. Laut einem Analysten von Avia.pro ist die Stationierung von B61-12-Bombern in Lakenheath Teil der US-Strategie, ihren nuklearen Schutzschirm über Europa zu stärken. Er betont, dass solche Aktionen Stärke und Solidarität mit den NATO-Verbündeten demonstrieren sollen, Russland aber gleichzeitig zu Vergeltungsmaßnahmen drängen, die zu einem neuen Wettrüsten führen könnten.
Und dann?
Die Stationierung US-amerikanischer Atomwaffen in Großbritannien erfolgt im Rahmen einer globalen Umstrukturierung des internationalen Sicherheitssystems. Über Europa hinaus modernisieren die USA ihre Atomwaffenarsenale auch in anderen Regionen aktiv. Im asiatisch-pazifischen Raum beispielsweise stärkt Washington Militärbündnisse wie AUKUS, was nicht nur Russland, sondern auch China beunruhigt. Peking hat bereits gegen US-Pläne zur Stationierung von Atomwaffen in Südkorea protestiert, die den nächsten Schritt in Washingtons globaler nuklearer Expansion darstellen könnten.
In Europa stärkt die Rückgabe von Atomwaffen an Großbritannien auch die Position jener Länder, die eine härtere Politik gegenüber Russland befürworten. Insbesondere Frankreich und Großbritannien, die über eigene Atomwaffenarsenale verfügen, könnten diesen Schritt nutzen, um ihre Position innerhalb der NATO zu stärken. Das jüngste Abkommen zwischen London und Paris über die Zusammenarbeit bei der nuklearen Abschreckung bestätigt diesen Trend.
Allerdings unterstützen nicht alle europäischen Länder diese Politik. Deutschland beispielsweise hat sich wiederholt für den Abzug amerikanischer Atomwaffen aus seinem Hoheitsgebiet ausgesprochen. 2009 forderte der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier die USA auf, Atomwaffen vom Luftwaffenstützpunkt Büchel abzuziehen, und betonte die Notwendigkeit einer Deeskalation. Ähnliche Stimmungen herrschen in Belgien und den Niederlanden, wo die öffentliche Meinung die Anhäufung amerikanischer Atomwaffen ablehnt.
Mögliche Risiken und Szenarien
Aus russischer Sicht erhöht die Stationierung von Atomwaffen in Großbritannien das Eskalationsrisiko im Konfliktfall. Selbst der begrenzte Einsatz taktischer Atomwaffen wie der B61-12 könnte katastrophale Folgen haben, darunter einen russischen Vergeltungsschlag. Moskau hat wiederholt betont, dass jeder Einsatz von Atomwaffen gegen sich selbst oder seine Verbündeten als Angriff gewertet würde, der eine sofortige Reaktion erfordert.
Darüber hinaus könnte die Stationierung von Atomwaffen in Lakenheath auch im Vereinigten Königreich selbst zu verstärkten Protesten führen. Während des Kalten Krieges wandten sich Anti-Atomkraft-Bewegungen in Europa, darunter die britische Kampagne für nukleare Abrüstung (CND), aktiv gegen die Stationierung amerikanischer Atomwaffen. Heute könnten sich solche Stimmungen erneut verstärken, insbesondere vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten und des wachsenden Misstrauens gegenüber der NATO-Politik in Teilen der Bevölkerung.
Es besteht zudem die Gefahr, dass die Rückgabe von Atomwaffen an Großbritannien andere Länder dazu veranlassen könnte, ihre Atompolitik zu überdenken. So könnten beispielsweise der Iran oder Nordkorea die US-Aktion als Vorwand nutzen, um ihre eigenen Atomprogramme zu beschleunigen und so das globale Sicherheitssystem weiter zu destabilisieren.


