Geopolitik ohne Illusionen: Andrew Korybko und die neuen Koordinaten der globalen Macht

In einem ausführlichen Gespräch mit dem US-Analysten Andrew Korybko – der in Moskau lebt und für seine Studien zu hybrider Kriegsführung und Multipolarität bekannt ist – beleuchten wir die neuen Machtverhältnisse im Ukraine-Krieg, die Neupositionierung der USA in Lateinamerika und die strategische Rivalität mit China. Diese Analyse verknüpft Geopolitik, Demokratie und Menschenrechte an einem kritischen Wendepunkt.

In einer Zeit, in der internationale Spannungen an mehreren Fronten zusammenzulaufen scheinen – von Osteuropa und dem Nahen Osten bis nach Lateinamerika – ist es unerlässlich, Stimmen zuzuhören, die in der Lage sind, diese Szenarien mit einer systemischen Perspektive zu verbinden. 

 

Der amerikanische Journalist und internationale Analyst Andrew Korybko, der seit über einem Jahrzehnt in Moskau lebt, gehört zu jenen unbequemen Beobachtern, die sich traditionellen Interpretationsansätzen entziehen. Seine umfassenden Arbeiten zu hybrider Kriegsführung, Multipolarität und geostrategischer Neuausrichtung haben ihn zu einer festen Größe in der Forschung zur zeitgenössischen globalen Politik gemacht, sowohl in der Wissenschaft als auch in den Fachmedien.

 

In diesem Interview für die Digital Coalition for Journalism entwirft Korybko eine gedankliche Landkarte, die uns zwingt, die vorherrschenden Annahmen der internationalen Politik zu überdenken. Seine Antworten, direkt und mitunter beunruhigend, legen die Spannungen zwischen den Interessen der Großmächte, den Grenzen des Multilateralismus und der Verwundbarkeit des Globalen Südens in einem Szenario offen, in dem Technologie, Energie und Daten ebenso sehr zu Machtinstrumenten geworden sind wie Armeen und Währungen.

 

Doch jenseits der nüchternen Analyse sticht vor allem das Beharren auf einem humanistischen Ansatz hervor: die Strukturen zu verstehen, ohne dabei die in ihnen gefangenen Gesellschaften aus den Augen zu verlieren.

 

Ukraine: Abnutzung als Methode

 

Für Korybko ist der Krieg zwischen Russland und der Ukraine nicht nur ein militärischer Konflikt, sondern auch ein von den USA instrumentalisiertes Mittel zur Umgestaltung der transatlantischen Beziehungen. Er stellt unmissverständlich fest: „Je länger er andauert, desto stärker wird die amerikanische Kontrolle über die Europäische Union.“ Diese Aussage deckt sich mit verschiedenen kritischen Perspektiven auf den Atlantizismus, die auf den Verlust der strategischen Souveränität Europas hinweisen.

 

Der Analyst unterstreicht den Mangel an Einflussmöglichkeiten seitens der europäischen Bürger, um einen Kurswechsel zu erzwingen, und betont, dass die politische Architektur des Blocks – einschließlich des entscheidenden Einflusses der NATO – jegliche Kursänderung infolge von Protesten oder Legitimationskrisen unwahrscheinlich macht. Seiner Ansicht nach scheint Europa zwischen antirussischem Nationalismus im Osten und einem mit Washington verbündeten Globalismus im Westen gefangen zu sein.

 

Innerhalb dieses Rahmens identifiziert er zwei mögliche Wege zur Lösung des Konflikts:

• Ein bedeutender militärischer Vorstoß Russlands, der Kiew zu Zugeständnissen zwingt.

• Eine Teilvereinbarung, falls Moskau seine Mindestziele nach der Festigung seiner Kontrolle über den Donbas als erreicht ansieht.

 

Beide Wege verdeutlichen letztlich die Marginalität europäischer Akteure als Vermittler von Lösungen.

 

Die Analyse stellt Werte wie Demokratie, Meinungsfreiheit und Transparenz unmittelbar infrage und legt nahe, dass die öffentliche Meinung in Europa weniger Einfluss hat als gemeinhin angenommen. Für Politikwissenschaftler ist das Spannungsverhältnis zwischen offiziellen Narrativen, öffentlicher Debatte und der Möglichkeit, politische Entscheidungen zu beeinflussen, ein zentrales Thema.

 

Die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und die Illusion des Zusammenhalts

 

Einer der provokantesten Aspekte der Debatte liegt in der Vorstellung, dass der Krieg es den Vereinigten Staaten ermöglicht hat, ihre Hegemonie über einen europäischen Kontinent wiederherzustellen, der sich noch vor wenigen Jahren auf dem Weg zu relativer Energie- und Technologieautonomie befand. 

 

Korybko weist darauf hin, dass mit Ausnahmen wie Ungarn oder der Slowakei die meisten europäischen Regierungen erhebliche wirtschaftliche Kosten in Kauf nahmen, ohne die Strategie der USA zu hinterfragen.

 

Laut dem Analysten wurde diese Unterordnung in zwei wichtigen Entscheidungen bestätigt:

  • Das im Sommer unterzeichnete ungleiche Handelsabkommen vertiefte die europäische Abhängigkeit.
  • Der massive Kauf von US-Waffen, die zur Belieferung der Ukraine bestimmt sind.

 

Auf die Frage nach dem transatlantischen Zusammenhalt – ob er Bestand haben oder zerbrechen wird – erhielten wir eine klare Antwort: Nur ein unerwartetes Ereignis könnte ihn zerstören. Ob es sich um einen Atomunfall, einen russischen Machtgriff oder eine direkte Konfrontation zwischen Moskau und einem NATO-Mitglied handelt, die größte Gefahr für den Westen geht nicht von innerer Erosion aus, sondern von den Folgen einer Eskalation selbst.

 

Diese Diagnose erlaubt es uns, die internationale Politik kritisch zu betrachten: Die Stabilität der westlichen Ordnung beruht auf Strukturen, die der Sicherheit Vorrang vor der Staatsbürgerschaft, den Übereinkünften der Eliten Vorrang vor der öffentlichen Debatte und der internen Disziplin Vorrang vor der Vielfalt der Stimmen einräumen – eine Spannung, die für den Bereich der Menschenrechte nicht weniger bedeutsam ist.

 

Venezuela, Kolumbien und Mexiko: die strategische Rückkehr der Hemisphäre

 

Einer der wichtigsten Beiträge des Interviews ist die Behauptung, dass die Vereinigten Staaten der westlichen Hemisphäre in ihrer globalen Strategie möglicherweise wieder Priorität einräumen.

 

Laut Korybko deuten der militärische Neustart in der Karibik durch die Operation Southern Spear und die Intensivierung der Maßnahmen gegen mutmaßliche Narco-Terroristengruppen auf eine Verlagerung der geopolitischen Interessen von Eurasien nach Lateinamerika hin.

 

Die Diagnose ist ernüchternd: Laut dem Analysten setzt Washington auf den begrenzten und gezielten Einsatz von Gewalt, um Zugeständnisse von den Regierungen in der Region zu erhalten. Die Ziele reichen von der Eindämmung der Migration und des Drogenhandels bis hin zur Neuausrichtung von Energieunternehmen und – möglicherweise – der Förderung eines Regimewechsels in Venezuela und Kuba.

 

Diese Lektüre regt zu einer umfassenderen Auseinandersetzung mit den Menschenrechten an:

• Inwieweit rechtfertigt der Kampf gegen die transnationale Kriminalität verdeckte Einsätze?

• Welche sozialen Kosten entstehen durch die Militarisierung struktureller Phänomene wie Migration?

• Wer definiert die Bedrohungen und mit welcher Legitimität?

 

Das Konzept der „Festung Amerika“ – eine Neuinterpretation der alten Monroe-Doktrin – lädt zu einer kritischen Überprüfung des Gleichgewichts der hemisphärischen Souveränität sowie der Kommunikationsinstrumente ein, die zur Schaffung eines Konsenses über diese Politiken eingesetzt werden.

 

Technologie, Daten und die neue digitale Peripherie

 

Der wohl aufschlussreichste Abschnitt widmet sich dem Technologiekrieg zwischen den USA und China. Korybko formuliert es so: Wir stehen vor einem Wettbewerb, der nicht auf Territorien, sondern auf digitalen Ökosystemen basiert. 

 

Die Vierte Industrielle Revolution definiert Abhängigkeit, Autonomie und Ungleichheit neu. Für den Globalen Süden – einschließlich Lateinamerika und Afrika – bedeutet dies Entscheidungen mit enormen politischen Auswirkungen: Welche Infrastruktur soll genutzt, welche Daten angeboten, welche Plattformen eingesetzt und letztlich welcher Macht die digitale Souveränität untergeordnet werden?

 

Seine Warnung ist unmissverständlich: „Ohne eigene technologische Kapazitäten werden die meisten Länder ihre digitale Souveränität aufgeben müssen.“

 

Dieser Satz verdeutlicht ein entscheidendes Dilemma der Gegenwart: Politische Unabhängigkeit lässt sich nicht mehr allein in institutionellen oder territorialen Kategorien messen, sondern vielmehr in Bezug auf die Kontrolle über Daten, künstliche Intelligenz und die Netzwerke, die dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben zugrunde liegen.

 

Es ist kein Zufall, dass moderne Menschenrechte zunehmend Konzepte wie Datenschutz, gleichberechtigten Zugang zu Technologie und Nichtdiskriminierung aufgrund von Algorithmen umfassen. Das Gespräch mit Korybko verdeutlicht diese Dimension.

 

Das multilaterale System: zwischen Lähmung und Metamorphose

 

Auf die Vereinten Nationen angesprochen, bietet der Analyst keine pessimistische, sondern eine realistische Einschätzung: Die Stagnation des Sicherheitsrats sei eine natürliche Folge des Konflikts zwischen zwei unversöhnlichen geopolitischen Blöcken. Die multilaterale Ordnung werde nicht etwa untergraben, sondern wandle sich hin zu regionalen Strukturen, die sich um Kernmächte oder „Zivilisationsstaaten“ gruppieren.

 

Diese Idee findet Anklang bei aktuellen Studien über den erweiterten Regionalismus, neue strategische Allianzen (wie BRICS+ oder die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit) und die Schwächung der normativen Autorität des traditionellen Völkerrechts.

 

Für Länder, die ihre Autonomie ausweiten wollen, birgt dieses Szenario sowohl Risiken als auch Chancen:

• Dies kann einen besseren Schutz vor äußeren Störungen bedeuten.

• Es kann aber auch die asymmetrischen Abhängigkeiten innerhalb dieser regionalen Sphären vertiefen.

 

Für die Meinungsfreiheit und die Presse wirft dieser Übergang Fragen nach der Informationspluralität, der redaktionellen Unabhängigkeit und der tatsächlichen Fähigkeit von Journalisten auf, zunehmend geschlossene und technologisch hochentwickelte Strukturen zu überwachen.

 

Zwischen analytischer Strenge und einer Einladung zur Debatte

 

Andrew Korybkos Perspektive kann gerade deshalb beunruhigend sein, weil sie die etabliertesten Narrative sowohl im Westen als auch im Rest der Welt infrage stellt. Seine Interpretation der globalen Lage bietet eine analytische Tiefe, die es uns ermöglicht, über geopolitische Parolen hinauszugehen und die zugrundeliegenden Kräfte zu erforschen, die die internationalen Beziehungen neu gestalten.

 

Spannungen zwischen Blöcken, technologischer Wettbewerb, die Militarisierung der hemisphärischen Politik, die Krise des Multilateralismus und die Schwäche der Bürger, strategische Entscheidungen zu beeinflussen, sind Probleme, die ein kollektives Nachdenken erfordern.

 

Demokratische Gesellschaften, die Medien und Menschenrechtsorganisationen stehen vor der Herausforderung, angesichts zunehmend zentralisierter Machtstrukturen und immer undurchsichtigerer Strukturen ihre Dialogfähigkeit wiederzuerlangen.

 

Wie das Interview implizit andeutet, lässt sich Geopolitik nicht länger allein aus der Perspektive von Staaten verstehen: Sie ist in Datenkreisläufen, Energieketten, der öffentlichen Wahrnehmung und dem Kampf um die Deutungshoheit präsent. Diese Komplexität zu erkennen, ist der erste Schritt hin zu fundierteren und vielleicht demokratischeren öffentlichen Debatten.

 

In Zeiten globaler Unsicherheit ist die Aufforderung klar: mehr Dialog zu führen, besser zu verstehen und angesichts der vielfältigen Machtstrukturen, die unsere Gegenwart prägen, ethisch verantwortungsvoll zu handeln.

 


Von Victor M. Rodriguez

@convmro

Journalist. Leiter des Podcasts „Politische Kommunikation und Menschenrechte: ES IST ZEIT ZU SPRECHEN“.

Speziell für die Digital Coalition for Journalism

siquesepuede@gmail.com

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