Die Götter sind zurückgekehrt:

Was uns das späte Rom und die Weimarer Republik über das heilige Vakuum lehren

 

Das heilige Vakuum als zivilisatorisches Ereignis
Wenn wir sagen, eine Zivilisation habe „den Glauben verloren“, stellen wir uns oft ein langsames Abdriften in die Gleichgültigkeit vor – Menschen, die sonntags ausschlafen, weniger Kerzen brennen, weniger Gebete flüstern. Doch die Geschichte zeigt: Wenn ein zentrales Narrativ zusammenbricht, wird es selten durch nichts ersetzt. Das menschliche Verlangen nach Ordnung, Identität und Sinn ist zu stark. Was verschwindet, ist nicht der Glaube selbst, sondern das Gerüst, das ihn einst trug. An seine Stelle tritt Improvisation – mal verstreut und kreativ, mal organisiert und rücksichtslos.

Das nenne ich das heilige Vakuum. Es ist kein friedlicher Ort. Es ist ein instabiler Zustand, in dem konkurrierende symbolische Systeme um die Vorherrschaft kämpfen. Und weil dieses Vakuum ein strukturelles Phänomen ist – eine Folge institutionellen Versagens –, ist es nicht nur in unserer Zeit zu beobachten. Wir haben es schon einmal erlebt. Zwei historische Momente zeigen uns besonders, wie sich Mythen im Zusammenbruch verhalten: das späte Römische Reich und die Weimarer Republik.

 

Beide waren ein Versuchslabor für die Remythologisierung. In beiden Fällen verlor die alte Ordnung ihre Autorität, neue spirituelle Formen drangen auf den Plan, und politische Kräfte versuchten, die symbolische Energie einzufangen. Doch ihre Entwicklungslinien gingen weit auseinander, und aus dieser Divergenz lassen sich Lehren für die Gegenwart ziehen.

 

Spätes Rom: Ein Reich ohne Geschichte
Im dritten Jahrhundert n. Chr. geriet Roms imperiale Maschinerie ins Wanken. Die politische Stabilität der Pax Romana war dahin und durch einen ständigen Wechsel der Kaiser ersetzt worden – über zwei Dutzend in nur fünfzig Jahren, viele von ihnen fanden ein gewaltsames Ende. Die Wirtschaft litt unter militärischer Übermacht und Inflation; die Grenzverteidigung war überlastet.

Die bürgerliche Religion, die einst das Reich zusammenhielt, war nun kaum mehr als eine Zeremonie. Das traditionelle Pantheon befand sich zwar noch immer in den Tempeln, doch Jupiter und Mars verkörperten nicht länger eine einigende Vision von Roms Platz im Kosmos. Staatsrituale waren öffentliches Theater ohne die Überzeugung, Loyalität zu wecken.

In dieses Vakuum floss eine reiche Vielfalt alternativer Spiritualitäten. Die aus Ägypten, Persien und Anatolien importierten Mysterienkulte versprachen den Eingeweihten persönliche Erlösung und geheimes Wissen. Der Isis-Kult bot eine mütterliche Gottheit, die sich um das Schicksal des Einzelnen kümmerte. Der unter Soldaten beliebte Mithraismus bot seinen Anhängern einen kosmischen Kampf zwischen Licht und Dunkelheit, der um aufwendige Initiationsriten herum strukturiert war. Kybeles Anhänger pflegten ekstatische Zeremonien und saisonale Feste, die sich von der römischen Förmlichkeit abhoben.

Auch die philosophische Mystik gewann an Boden. Der Neuplatonismus mit seiner Vision eines transzendenten Einen, von dem alle Realität ausgeht, bot einen intellektuellen Weg zur göttlichen Einheit. Sogar das frühe Christentum – das während eines Großteils dieser Zeit noch verfolgt wurde – zog mit seinem apokalyptischen Versprechen der Erneuerung und seinem Beharren auf moralischer Gleichheit vor Gott Anhänger an.

Die faszinierendste Figur in diesem Wirbel war Kaiser Julian (regierte 361–363), der christlichen Chronisten als „der Abtrünnige“ in Erinnerung blieb. Julian, im christlichen Glauben erzogen, lehnte ihn ab und machte sich daran, den Polytheismus wiederzubeleben. Doch dabei ging es nicht einfach um die Wiederherstellung der alten Kulte. Julians Heidentum war eine konstruierte Synthese – ein bewusst geschaffenes, mehrgöttliches Gerüst, das der theologischen Kohärenz des Christentums entsprechen sollte. Er förderte neuplatonische Philosophen, reformierte heidnische Priesterschaften und belebte Rituale auf eine Weise wieder, die mit der christlichen Liturgie konkurrieren konnte. Sein Projekt war der Versuch, die symbolische Einheit des Reiches durch ein pluralistisches mythisches System wiederherzustellen.

Julian scheiterte nicht etwa, weil dem Heidentum kulturelle Wurzeln fehlten, sondern weil die Struktur des Christentums – zentralisierte Führung, klare Lehre, disziplinierte moralische Gemeinschaft – besser auf die Bedürfnisse eines zersplitterten Reiches abgestimmt war. Gegen Ende des Jahrhunderts war die christliche Kirche nicht nur eine Religion, sondern das neue symbolische Rückgrat des Reiches.

Lektion: In einem heiligen Vakuum reicht die Pluralität der Glaubensrichtungen nicht aus. Das System, das den Mythos am effektivsten organisiert – und Kohärenz, moralische Autorität und institutionelle Infrastruktur bietet – wird die Ordnung nach dem Zusammenbruch dominieren.

Weimarer Deutschland: Mythos im Zeitalter der Massenpolitik
Während das Vakuum des späten Roms durch langsame Veränderungen in Kult und Glauben gefüllt wurde, wurde das Weimarer Deutschland in industriellem Tempo von Mythen überflutet. Weimar, geboren aus der militärischen Niederlage von 1918, trug die Last des Versailler Vertrags: Strafreparationen, Gebietsverluste und die Demütigung der Besatzung. Politisch instabil, erlebte es häufige Regierungswechsel, weit verbreitete Straßengewalt und eine tiefe Polarisierung zwischen links und rechts.

Die Wirtschaftskrisen – die Hyperinflation 1923, die Weltwirtschaftskrise nach 1929 – untergruben das Vertrauen der Öffentlichkeit in die parlamentarische Demokratie. Die rationalistischen Ideale der Aufklärung, verankert in der liberalen Verfassung Weimars, schienen der Demütigung und dem materiellen Leid der Nation machtlos gegenüberzustehen. Die Bühne war bereitet für symbolische Improvisation.

Dies war keine Improvisation im Sinne persönlicher Spiritualität, sondern Massenmythenbildung. Deutschland erlebte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine lebhafte Wiederbelebung des Okkultismus: Theosophie, Anthroposophie, Astrologie und esoterische Rassentheorien blühten in Salons, Verlagen und Hörsälen. Die völkische Bewegung verband nationalistische Gefühle mit einer romantisierten Vision des alten germanischen Heidentums, komplett mit Runenmagie und heiligen Landschaften.

Wie der Historiker Eric Kurlander feststellt, bildeten diese esoterischen Ideen eine „integrierte übernatürliche Vorstellungswelt“ – ein Netzwerk aus Mythen, Symbolen und Pseudogeschichten, das die Vergangenheit, Gegenwart und das imaginierte Schicksal der Nation miteinander verband. Diese Vorstellungswelt blieb keine Subkultur. Politische Akteure erkannten ihre mobilisierende Kraft und begannen, sie in ihre Propaganda einzubinden.

Besonders die NSDAP meisterte diese Fusion. Die nordische Mythologie wurde zu einer Geschichte rassischer Herkunft umgedeutet. Das Hakenkreuz, ein altes indoeuropäisches Symbol, wurde zum politischen Sinnbild ewigen Kampfes. Staatliche Zeremonien orientierten sich an heidnischen Sonnenwenderitualen, komplett mit Fackelzügen und choreografierten Massenversammlungen. Die Rhetorik des Regimes interpretierte die Politik als kosmischen Kampf zwischen der „arischen Rasse“ und den Mächten der Finsternis – Juden, Bolschewiken und anderen erklärten Feinden.

Hier war der Mythos nicht pluralistisch und forschend wie im späten Rom. Er war zentralisiert, kodifiziert und durchgesetzt. Das heilige Vakuum wurde nicht durch eine Rückkehr zur alten Vielfalt geschlossen, sondern durch eine totalisierende Erzählung, die keine Rivalen zuließ.

Lektion: Im Zeitalter der Massenpolitik und der modernen Kommunikation kann das heilige Vakuum schnell durch einen einzigen, mobilisierenden Mythos gefüllt werden – insbesondere, wenn Wirtschaftskrise und Demütigung einen fruchtbaren Boden für absolutistische Narrative schaffen.

Vergleich der Muster
Trotz der Kluft zwischen Zeit und Kultur reimt sich die Dynamik.

Sowohl die Spätrömische als auch die Weimarer Republik begannen mit einem Zusammenbruch der institutionellen Legitimität.

In beiden Fällen kam es zu einer Verbreitung alternativer Symbolsysteme.

Beide standen organisierten Akteuren gegenüber, die versuchten, diese Symbole in einer kohärenten politischen und moralischen Ordnung zu konsolidieren.

Der entscheidende Unterschied lag im Grad der Zentralisierung. Roms mythische Wiederbelebung war vielfältig, umstritten und langsam und ermöglichte konkurrierende Visionen. In Weimar hingegen wurde sie durch die Massenmedien beschleunigt und von einer disziplinierten politischen Bewegung aufgegriffen, was zu einem ideologischen Monopol führte.

Für die Gegenwart ist dies kein abstrakter Punkt. Digitale Plattformen verkürzen die Zeit zwischen Symbol, Ritual und Kodifizierung. Was Julian Jahre brauchte, um es zu entwickeln, oder die Nazis ein Jahrzehnt, um es zu standardisieren, kann heute durch vernetzte Medien in Monaten erreicht werden. Das Risiko einer Gefangennahme ist höher – und die Geschwindigkeit der Gefangennahme ist beispiellos.

Warum diese Geschichten heute wichtig sind
Der Westen teilt heute den Pluralismus Roms: eine chaotische Mischung aus Online-Spiritualität, aktivistischen Kosmologien, Verschwörungsbewegungen und popkulturellen Mythologien. Er teilt auch die Verwundbarkeit Weimars: tiefes institutionelles Misstrauen, zunehmende Polarisierung und Akteure, die es verstehen, Mythen für politische Zwecke zu instrumentalisieren.

Das heilige Vakuum ist da. Die einzigen Fragen sind:

Wird es ein Raum konkurrierender symbolischer Systeme bleiben?

Oder wird sie durch Bewegungen gefestigt, die in der Lage sind, den Mythos in das Gerüst einer neuen politischen Ordnung zu verwandeln?

Die Geschichte zeigt, dass der entscheidende Faktor die Organisation sein wird. Plurale Mythen können nur koexistieren, wenn sie in einem breiteren gesellschaftlichen Rahmen verankert sind, der die Vielfalt schützt. Andernfalls werden die diszipliniertesten Mythenmacher die Bedingungen der Welt nach dem Vakuum diktieren.

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